Ein Produktionsminus von 8 % in 2024, geopolitische Brandherde und Fachkräftemangel – die Probleme im deutschen Maschinenbau sind groß. Andreas Böhm, Branchenexperte und Partner bei MPower, erläutert im Interview, dass die Unternehmen bislang ein zentrales Thema außer Acht lassen.
Herr Böhm, wie schätzen Sie die aktuelle Situation im deutschen Maschinenbau ein?
Die Stimmung ist derzeit sehr gedrückt. Unsicherheit über die zukünftige Entwicklung des Welthandels und die angespannte Auftragslage belasten die Unternehmen. Auch für dieses Jahr liegt die Prognose des VDMA bei einem Produktionsminus von zwei Prozent. Fast die Hälfte aller Maschinenbauunternehmen befindet sich in einer Restrukturierung oder beabsichtigt diese. Jedes vierte Unternehmen plant aktuellen Studien zufolge den Abbau von Produktionskapazitäten. Über 40 % wollen Standorte verlagern und dabei Personal abbauen. Das sind alarmierende Zahlen.
Wo liegen aus Sicht der Unternehmen die derzeit größten Herausforderungen?
Die stark mittelständisch geprägte Branche sieht als die größten Hemmschuhe Punkte, die sich auf die Standortpolitik beziehen. Insbesondere der Arbeits- und Fachkräftemangel, die verschärften Gesetze und Regulierungen sowie steigende Energie- und Personalkosten machen den Unternehmen zu schaffen und verschlechtern die Wettbewerbsfähigkeit im internationalen Vergleich. Die Bedeutung Chinas als Absatzmarkt nimmt in vielen Fällen ab.
Hat der deutsche Maschinenbau überhaupt noch eine Chance, seine Führungsrolle zu behaupten?
Es werden viele gute Maßnahmen diskutiert und angegangen: Innovationen vorantreiben, Digitalisierung nutzen, Fachkräfte an das Unternehmen binden, die Internationalisierung ausbauen oder die Nachhaltigkeit fördern. Mein Thema, um Unternehmen zurück auf den Erfolgskurs zu bringen, ist ein anderes und oft zu wenig Beachtetes: die Geschwindigkeit aller Maßnahmen und Prozesse im Unternehmen deutlich steigern.
Was meinen Sie damit genau?
Unternehmen im Maschinenbau optimieren seit vielen Jahren ihre Prozesse - sie beleuchten jedes Thema von den verschiedensten Seiten. Das Ziel dabei ist, höchste Qualität der Produkte, aber auch der Prozesse zu erreichen. Aus meiner Sicht kann man schon von einem Hang zum Perfektionismus sprechen. Diese ausgeklügelte Prozesslandschaft führt zu erheblichen, sehr zeitaufwendigen Prozessen in den verschiedensten Bereichen und resultiert in oftmals viel zu spätem Erreichen der eigentlichen Ziele.
Können Sie Beispiele nennen?
Der Produktentstehungsprozess im Maschinenbau mit dem häufig genutzten Gate-Prozess ist so ein Beispiel. Der Gate-Prozess ist ein in der Branche weit verbreitetes Verfahren, das sicherstellt, dass jedes Projekt nach klar definierten Kriterien geprüft wird. Hierbei wird jeder Entwicklungsschritt durch festgelegte Zwischenprüfungen, den Gates, begleitet. Das Produktmanagement kommt mit einer Vielzahl von Ideen, die analysiert und bewertet werden – dies ist theoretisch der richtige Ansatz. Es werden Pflichten- und Lastenhefte erstellt, Prototypen gebaut, Vorserienprodukte konzipiert und aufwändige Feldtests durchgeführt, um dann beim letzten Gate die Serienfreigabe zu erreichen.
Welche Probleme resultieren aus diesen aufwändigen Prozessen?
Leider wird selten die ursprünglich avisierte Zeitschiene erreicht. Aus eineinhalb Jahren werden oft drei oder vier Jahre. In dieser Zeit haben asiatische Wettbewerber oft nicht nur das erste, sondern auch schon ein Nachfolgeprodukt auf den Markt gebracht. In solche Prozesse sind viele wichtige Leistungsträger des Unternehmens involviert: Produktmanagement und Vertrieb, Entwicklung, Versuch, Qualitätssicherung, Fertigung und Montage sowie Einkauf, Service und Controlling. Zahlreiche interne Meetings in großen Runden erschweren schnelle Entscheidungen. In diesen fehlen oft die klare Zielstellung des Termins, die Vorbereitung und das Protokoll, das die Entscheidung, die Verantwortlichen und eine Zeitschiene festhält. Dies können wir uns nicht mehr leisten. Für mich stellt sich immer wieder die Frage, ob das Bessere immer dem Schlechteren überlegen ist. Oder schlägt der Schnellere im Wettbewerb um den Kunden den Langsamen?
Was sollten die Unternehmen tun?
Das Thema Geschwindigkeit muss in den Fokus rücken: Geschwindigkeit und Agilität bei Prozessen, Verkürzung von Entscheidungswegen, Verschlankung des Unternehmens, klare Kommunikationsstrukturen. Die Fähigkeit, schnell zu handeln, zu entscheiden und zu liefern, auf Produkte und Serviceleistungen bezogen, wird zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil. Unternehmen, die in der Lage sind, ihre Prozesse schneller zu gestalten und sich an den immer kürzeren Innovationszyklen auszurichten, werden erfolgreicher sein.
Geht Geschwindigkeit auf Kosten der Qualität?
Was wird aus dem Qualitätslabel „Made in Germany“?
Die große Herausforderung für den Maschinenbau ist aus meiner Sicht, die Balance zu finden zwischen Qualität und Perfektionismus auf der einen, sowie der notwendigen Agilität und Reaktionsgeschwindigkeit auf der anderen Seite. Damit ist nicht gemeint, dass Qualitätsansprüche zugunsten der Geschwindigkeit aufgegeben werden, jedoch sind wir gefordert, eine bessere Balance zu finden. Ich erlebe bei vielen Maschinenbauern eine Kompromisslosigkeit, was den Anspruch an das Produkt angeht, diese können wir in Zukunft nicht mehr halten. Qualität muss neu gedacht werden: der Kundennutzen sollte dem der Konkurrenz standhalten, Service- und andere Dienstleistungen sind kurzfristig über den gesamten Produktlebenszyklus hinweg zu erbringen.
Was heißt dies konkret für die Praxis?
Die gesamte Organisation sollte das Thema mittragen, Bürokratie im Unternehmen abgebaut, der Fokus auf den Bedürfnissen des Kunden – den Jetzigen und den Zukünftigen - liegen. Ein einheitliches KPI-System über alle Bereiche hinweg führt alle Bereiche in die gleiche Richtung. Die Themenstellungen der Zukunft sind neben schlanken, effizienten, schnellen und kundenorientierten Prozessen auch sehr eng mit der rasanten Entwicklung der KI-Tools verbunden. Wir Europäer müssen die enormen Möglichkeiten, die uns KI bietet, viel positiver antizipieren und als riesige Chance begreifen, unsere hervorragende Stellung auf den Weltmärkten zu erhalten.
Andreas Böhm, Diplom-Volkswirt, Partner bei MPower, ist seit über 25 Jahren als Managing Director und CFO im internationalen Maschinenbau tätig. Seine Schwerpunkte liegen in den Bereichen Unternehmensführung, strategische Ausrichtung, Strukturierung von Organisationen und Prozessen, Finanzierung, Internationalisierung sowie Supply-Chain-Management.
Andreas Böhm steht Ihnen unter andreas.boehm_f@mpower.de gerne für ein Gespräch zur Verfügung.